Sexuelle Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung

Forschungsergebnisse aus den letzten Jahrzehnten besagen: Die sexuelle Entwicklung ist für Menschen mit geistiger Behinderung ebenso bedeutungsvoll wie für jeden anderen Menschen. Fachleute sind sich einig: Menschen, die als „geistig behindert“ gelten, haben keine „besondere“ Sexualität. Die meisten von Ihnen wünschen sich genau das gleiche wie ihre nicht behinderten Altersgenossen: Flirt, Freundschaft, Liebe, Partnerschaft, Sexualität, Geborgenheit, Leidenschaft. Sie haben die gleichen Grundbedürfnisse wie andere Menschen auch. Im Umgang mit der Sexualität geistig behinderter Menschen gibt es jedoch immer noch viele Unsicherheiten.

Andrea Bentzien  (AB), Sexualpädagogin (gsp) und Sozialpädagogin (FH) beantwortet im folgenden unter anderem, warum sexuelle Selbstbestimmung und Behinderung ein wichtiges Thema ist.

PAS: Behinderung und sexuelle Selbstbestimmung – ein wichtiges Thema? Und wenn ja, warum sollte man diese Seminarreihe oder einzelne Module davon besuchen?

AB: Diese Frage hat meiner Meinung nach viel Potential. Einerseits ist die sexuelle Selbstbestimmung  von Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung seit mehreren Jahren in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt und wird diskutiert. Auf der anderen(praktischen) Seite ist es oftmals immer noch mit einem großen Tabu belegt. Da wird es wichtig, sich mit dem Thema SEXUALITÄT auseinanderzusetzen – denn Sexualität meint mehr als den Geschlechtsakt an sich.

Und dann kommen wir zum Thema SELBSTBESTIMMUNG. Wie Selbst-bestimmt sind Kolleginnen und Kollegen im beruflichen Kontext (institutionelle Rahmenbedingungen) und wie Selbst-bestimmt ist der geistig beeinträchtigte Mensch? Inwieweit ist er bei der Erlangung seiner Lebenskompetenz in Bezug auf soziale (z.B. sexuelle)Kompetenz unterstützt worden?

Hier wird sehr deutlich, wie abhängig Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung von unserer Sicht auf die Welt, unserem  Menschenbild, unseren Werten und Normen sein können. In meinen Seminaren gehe ich auf diese Zusammenhänge ein, um Sichtweisen klar zu machen, zu überprüfen und wenn nötig gemeinsam mit den Seminarteilnehmern neue Handlungsansätze zu erarbeiten. In diesem Zusammenhang ist es mir sehr wichtig vielfach erprobte Methoden als Anregung weiterzugeben, um die praktische Arbeit im Betreuungsalltag zu bereichern.

PAS: Wie reagieren Einrichtungen oder Angehörige auf das Thema – offen oder eher verunsichert?

AB: Mitarbeiter aus Einrichtungen und Angehörige von Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen reagieren sowohl offen als auch verunsichert auf das Thema Sexualität. Wenn alle Beteiligten einen offenen Umgang mit dem Thema zulassen können, treten in den meisten Fällen kaum Probleme auf.

Anders sieht es aus, wenn Offenheit und Verunsicherung oder gar Ablehnung des Themas aufeinander treffen. Hier wird deutlich, wie wichtig die Kommunikation zu diesem Thema ist. Es treffen unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Leitbildern, Ängsten, Werten und Normen aufeinander – die alle ihre Berechtigung haben und die das Leben anderer Menschen beeinflussen können. Was für eine Verantwortung in unseren Händen! Um wen geht es, wenn wir Entscheidungen treffen? Steht der Mensch mit der Beeinträchtigung noch im Mittelpunkt unseres Denkens und  Handelns?

Ein wichtiges Anliegen in meinen Seminaren: Es geht nicht um schwarz oder weiß, sondern darum, miteinander  ins Gespräch zu kommen und eine für alle lebbare Lösung zu finden.

PAS: Können Sie ein konkretes Beispiel für einen gelungenen Umgang mit der Sexualität geistig behinderter Menschen seitens einer Einrichtung nennen?

AB: Hier fallen mir spontan zwei Beispiele ein. Im letzten Jahr wendeten sich die Eltern eines 16 jährigen Jungens an mich. Sie waren über den Sicherheitsdienst eines großen Kaufhauses informiert worden, dass ihr Sohn seit über einem Jahr Kleider in der Damenabteilung nicht nur anprobiert sondern auch „beschmutzt“ hat. Im Klartext: Er hat in der Umkleidekabine im Kleid onaniert.

Nach mehreren Gesprächen war klar, dass der Junge einen Fetisch hat. Für die Eltern – besonders die Mutter - brach erst mal eine Welt zusammen. Nach weiteren Gesprächen und durch Informationen konnte die Situation entdramatisiert und eine Lösung im Sinne des Jungen gefunden werden. Gemeinsam mit seiner Mutter suchte sich der Junge über einen Onlineshop ein Kleid aus, das er von seinem Taschengeld bezahlte. Seine Sexualität kann er jetzt zu Hause, in seinem Zimmer geschützt ausleben. Dieses Zugeständnis fiel den Eltern nicht leicht, aber ihnen ist inzwischen klar, dass sie ihren Sohn so vor Bestrafung und Stigmatisierung schützen können.

Ein weiteres Beispiel sind die Kollegen der „Stralsunder Werkstätten“. In ihrem Projekt „ambulante Wohnassistenz“ werden geistig beeinträchtigte Mütter und Paare mit ihren Kindern betreut. Nach Weiterbildungen mit uns gelingt es ihnen noch besser in punkto Sexualität, Beziehung, weitere Familienplanung, Frauen- und Männerbild, JA-sagen, NEIN-sagen usw. ins Gespräch zu kommen. Sexualpädagogische Gesprächsrunden sind fester Bestandteil des Betreuungsalltages geworden und werden von den Bewohnern genutzt.

PAS Seminar:
Sexualpädagogisches Alltagstraining
Anmeldeschluss: 3.06.2013
Termin: 3. - 4.07.2013
Ort: Heidelberg
Dozentin: Andrea Bentzien

Weitere PAS Seminare im Bereich Behindertenhilfe:

Die ICF kennenlernen und in der eigenen Praxis erproben!
Anmeldeschluss: 26.08.2013
Termin: 26.09. + 14.11.2013
Ort: Heidelberg
Dozent: Torsten Busch

Aufbaukurs - Die ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung & Gesundheit) in der Behindertenhilfe & Sozialpsychatrie kennenlernen
Anmeldeschluss: 27.08.2013
Termin: 27.09.2013
Ort: Heidelberg
Dozent: Torsten Busch

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